Mobilisierung und Protest

Freitag, 30.09.
09:00–10:30 Uhr

Panel, Seminarzentrum Raum L113
Moderation: Meike Wagner
Corentin Jan

Theaterbesetzungen als Mobilisierungsform des Theaterfelds in Zeiten der politischen Dringlichkeit

Zwischen März und Mai 2020 wurden mehr als hundert Theater im französischsprachigen Raum besetzt. In einer Zeit der Schließung kultureller Infrastrukturen forderten die Besetzer*innen vor allem nach mehr kulturpolitischer Rücksicht auf die Situation der sogenannten intermittents, deren Arbeit und Lebensbedingungen von der Pandemie schwer getroffen wurden. Trotzdem scheint es sich bei diesen Theaterbesetzungen nicht nur um eine interne Mobilisierung des Theaterfelds um seine Zukunft in der Pandemie zu handeln, sondern auch um eine Suche nach einer Wirkung des Theaters auf dringliche politische Diskussionen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Sehr rasch erweiterten sich die Forderungen der Besetzer*innen auf tagesaktuelle Themen, u.a. auf die Reform der Arbeitslosenversicherung, die die französische Regierung vorhatte.
Solche Theaterbesetzungen haben weder in der Geschichte der französischen sozialen Bewegungen noch in der Form selbst der Besetzung Ausnahmecharakter: man denkt zum Beispiel an die Besetzung des Théâtre de l’Odéon im Jahre 1968 oder an die regelmäßigen Besetzungen der Universitäten, die aus bestrittenen politischen Reformen resultieren. Dennoch sind diese Theaterbesetzungen insofern interessant, als es sich um eine Mobilisierungsform des Theaterfelds handelt, die darauf zielt, auf dringliche politische Fragen und Kämpfe mit den Mitteln und der öffentlichen Ausstrahlungskraft des Theaters zu reagieren. In diesem Vortrag soll deswegen untersucht werden, wie TheaterbesetzerInnen versuchen, das Theater zu einem Verknüpfungsort zwischen dem kulturellen Feld und der Dringlichkeit politischer Fragen zu machen, welche diskursive und performative Mitteln dazu ins Spiel gebracht werden, und welche Konfliktualitäten – mit der Politik, mit der breiteren Öffentlichkeit oder selbst innerhalb des Theaterfelds – aus einer solchen Mobilisierungsform entstehen. Durch die Methodologie der sogenannten französischen „pragmatischen Soziologie“ sollen drei Beispiele von Theaterbesetzungen anhand der Analyse von Zeitungsartikeln und eigener Beobachtungen mit Besetzer*innen in Betracht gezogen werden: das Théâtre de l’Odéon in Paris wegen seines zentralen Platzes in der Bewegung, das Théâtre de Colline, das durch Student*innen aus Schauspielschulen besetzt wurde, und das Théâtre de la Criée in Marseille, das uns erlauben wird, zu sehen, wie diese Mobilisierung sich außerhalb von Paris entwickelt hat.

 

Sebastian Sommer

Wenn versammelter „Widerstand“ zur Umsturzübung wird
Die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse als Methode zur Untersuchung von (autoritären) Protestereignissen

Die Einschätzung, dass wir in einer „Bewegungsgesellschaft“ leben (u.a. Rucht), ist auch nach fast drei Dekaden weiterhin aktuell. Insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender postdemokratischer Entfremdungserfahrungen (Crouch) wird Protest innerhalb und außerhalb sozialer Bewegungen zu einem wichtigen Mittel unmittelbarer politischer Partizipation. Zwar sind entsprechende Praktiken des Versammelns als Formen des kollektiv abgestimmten Handelns im öffentlichen Raum dezidiert performative Phänomene. Dennoch spielten sie auch im Zuge der Öffnung theaterwissenschaftlicher Perspektiven hin zu Feldern jenseits der Performing Arts nur eine begrenzte Rolle. Entweder wurde Protesthandeln in der theaterhistoriographischen Rückschau analysiert oder eher spezifische Performance-Praktiken einzelner sozialer Bewegungen als ein bewusst auf ästhetische Wirkungen ausgelegter „Künstleraktivismus“ (Mouffe) betrachtet. Die scheinbar „normale“ Versammlung erhielt nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Allerdings waren es gerade in den letzten Jahren wiederkehrende Demonstrationsformate, wie PEGIDA, „Fridays for Future“ oder Querdenken, die zehntausende Menschen auf den Straßen versammelten und dabei politische Problemstellungen und gesellschaftliche Spaltungslinien in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben.
Ergänzend zu den genannten Perspektiven fasst der geplante Beitrag die eigene Forschungsarbeit zu den PEGIDA-Protesten in Dresden sowie die Beobachtungen von unterschiedlichen Demonstrationen autoritärer Gegner:innen der staatlichen Corona-Maßnahmen in Berlin zusammen.
Davon ausgehend sollen die Potentiale der Aufführungsanalyse als genuin theaterwissenschaftlichem Zugang zu (rechten) Protestevents als performativen „Sozialformen“ (Butler) herausgearbeitet sowie die sich ergebenden Herausforderungen diskutiert werden.
- Wo können kulturwissenschaftliche Perspektiven Ansätze einer weiterhin dominant sozialwissenschaftlich geprägten Protest- und Bewegungsforschung ergänzen, z. B. in Bezug auf die Analyse von Stimmungen oder das affektive Erleben von Gemeinschaftlichkeit?
- Inwieweit kann die Aufführungsanalyse bei auftretenden ‘dynamics of rejection‘, wie der dezidierten Forschungsfeindlichkeit in autoritären Bewegungen, Einblicke in Protest liefern, wenn andere empirische Methoden an ihre Grenzen gelangen?
- Wie lassen sich unterschiedliche methodische Zugänge verschränken und neue praktische Perspektiven einer transdisziplinären Forschung zu Protesten entwickeln?


Hans Roth

Theater und Staat: Vom vergeblichen Warten auf die „große Aussprache mit den Massen“ in der jungen DDR

Zu den neuen und alten Herausforderungen, mit denen sich Theater durch Corona konfrontiert sieht, gehört nicht zuletzt die Frage nach den institutionellen Verflechtungen von Theater und Staat. Durch die monatelangen Theaterschließungen wurde die materielle Abhängigkeit von staatlichen Geldern und Ressourcen – auch und gerade im Bereich der Freien Szene – noch einmal auf drastische Weise deutlich und hat sich tendenziell verstärkt. Auch die anhaltenden Debatten um Machtmissbrauch und strukturellen Rassismus am Theater geben Anlass, neu und anders über das Verhältnis von Theater und Staat nachzudenken. So liegt (queer-)feministischen und postkolonialen Ansätzen in aller Regel eine betont offene Konzeption von Politik und Staat zugrunde, die die Frage nach der Organisation und Verteilung von politischer Macht konsequent auf alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnt. Im Theaterdiskurs wird dieser Aspekt oft ausgeklammert: Die Kritik an hegemonialen Strukturen dient meist weniger als Impuls zur Selbstorganisation jenseits staatlicher Fördertöpfe und Einflussnahme, sondern erscheint als Appell zur Umverteilung ebendieser Ressourcen.
Hierin unterscheiden sich heutige Kritiken des Gegenwartstheaters signifikant von früheren Emanzipationsbewegungen: Die Volksbühnenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und auch das Agitprop-Theater der Weimarer Republik verstanden sich nicht nur als Gegenentwurf zum kommerziellen Kunst- und Unterhaltungstheater, sondern auch zu tradierten Idealen der nationalen und kulturellen Repräsentation. Ein möglicher Kipp-Punkt scheint diesbezüglich in den Auseinandersetzungen um die Formen und Ziele eines sozialistischen Theaters in der jungen DDR zu liegen. Im scharfen Kontrast zur staatskritischen Grundhaltung des politischen Theaters der 1920er Jahre sympathisierten viele Theaterleute anfangs entschieden mit dem sozialistischen Staat – gerieten aber bei ihren Versuchen, die Rolle des Theaters beim Aufbau des Sozialismus zu definieren, wiederholt mit den offiziellen kulturpolitischen Vorgaben in Konflikt. Wenngleich diese (erfolglosen) Bemühungen um ein dialektisch-kritisches Theater in der jungen DDR nur bedingt mit dem politischen Koordinatensystem der Gegenwart vergleichbar sind, ähneln sie in ihrer Verschränkung von institutionellen und künstlerischen Fragen durchaus den heutigen matters of urgency im Feld des Theaters.

Corentin Jan, Doktorand an der Sorbonne Nouvelle in Paris und am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München, Forschungsschwerpunkte: Theatersoziologie, Krisen im Gegenwartstheater, corentin.jan@sorbonne-nouvelle.fr
 
Hans Roth, wissenschaftl. Mitarbeiter am SFB 1171 Affective Societies der FU Berlin, Forschungsschwerpunkte: Politisches Theater, Komik als ästhetische und soziale Praxis, Theater als (hegemoniale) Institution, hans.roth@fu-berlin.de
 
Sebastian Sommer, Doktorand an der Freien Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Politischer Protest als performative Praxis (Schwerpunkt: autoritäre und extreme Rechte der BRD), Performative Versammlungstheorie(n) in Geschichte und Gegenwart, sommermail@zedat.fu-berlin.de