Dekoloniale Ansätze im Gegenwartstheater

Freitag, 30.09.
09:00–10:30 Uhr

Panel, Hörsaal 2

Moderation: Evelyn Annuß

Grit Köppen

Dekoloniale Ästhetiken in der zeitgenössischen Dramatik afrikanischer und afro-diasporischer Künstler_innen: methodologische Reflexion

Mein Forschungsgegenstand besteht aus einem Korpus an Theatertexten, die von frankophonen afrikanischen Künstler*innen verfasst werden und Themen wie Kolonialismus, Zwangsarbeit, Rassismus, extreme Gewaltverhältnisse, Militarisierung, Verarmung des globalen Südens, Ressourcenpolitik(en)- und Konsumkultur(en) des globalen Nordens, Migration u.a. in ihren Stücken bearbeiten. Besonders auffällig ist eine scharfe Kritik an aktuellen globalen politisch-ökonomischen Machtverhältnissen. Diese Künstler*innen produzieren thematisch, perspektivisch und ästhetisch dekoloniale Verschiebungen innerhalb des Theaters.
Bei den Akteur*innen handelt es sich um eine jüngere Generation von afrikanischen und afro-diasporischen Theaterautor*innen, die häufig auch in Funktion von Regie und/oder Schauspiel tätig sind. Sie arbeiten in internationalen Schreibresidenzen, publizieren in französischen Verlagen, disseminieren Theatertexte übers Radio, produzieren gleichermaßen in Frankreich, Belgien, Burkina Faso, Kongo oder Guinea, initiieren Theaterfestivals auf dem afrikanischen Kontinent, organisieren großräumige Tourneen durch das frankophone Afrika und zeigen ihre Inszenierungen bei europäischen Theaterfestivals in Limoges, Avignon oder Köln.
Methodisch lässt sich anhand dramenanalytischer Ansätze an dem Material - den vorliegenden Theatertexten - nachweisen, dass diese Kunstschaffenden einerseits von anti-kolonialen und dekolonialen Diskursen geprägt sind und gleichzeitig die Möglichkeiten der performativen Künste nutzen, um Prozesse des Dekolonisierens voranzutreiben – thematisch und ästhetisch.
Dabei produzieren sie derzeit – so meine These – eine Ästhetik des Aufruhrs. Diese Künstler_innen arbeiten allerdings auch mit Strategien der permanenten Verschiebung von Raum- und Zeitrelationen sowie Identitätskonstruktionen.
Aufgrund der Materiallage und des Produktionsbetriebs (besonders im globalen Kontext des Nord- und Südgefälles) erscheint es notwendig, dramenanalytische Ansätze wider verstärkt in die theaterwissenschaftliche Forschung einzubeziehen.
In meinem Beitrag werde ich in den Theatertexten entworfenen szenischen Anordnungen und dekolonialen Ästhetiken skizzieren, um dann Herausforderungen in der eigenen Forschung zu diskutieren: Methodik der Dramenanalyse und Einbezug postkolonialtheoretischer Konzepte in die theaterwissenschaftliche Reflektion.


Stefan Hölscher

Schwarze Identitätspolitik im aktuellen deutschen Theater

In meinem Vortrag will ich mich mit Schwarzer Identitätspolitik im deutschen Theater der Gegenwart befassen. Bereits hinsichtlich Schwarzer feministischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts lässt sich sagen, dass damals Schwarze Frauen eine Sichtbarkeit für sich einforderten, die bis dahin weißen Menschen – vor allem Männern – vorbehalten war. Spätestens mit dem Combahee River Collective in den USA in den späten 1970er Jahren und dem Wirken Audre Lordes und May Ayims im Berlin der 1980er Jahre kamen Debatten auf, die bis ins aktuelle deutsche Theater hinein fortwirken. Indem die historischen Akteur*innen Schwarzer Identitätspolitik auf spezifischen gesellschaftlichen Positionen und den damit verbundenen Sprecher*innenpositionen bestanden, wollten sie sich nicht nur von Gewaltverhältnissen emanzipieren, sondern die Sichtbarkeitsregime ihrer jeweiligen Gesellschaften insgesamt transformieren.
Vor diesem Hintergrund will ich mich neben US-amerikanischen und deutschen Kontexten mit einer Auswahl exemplarischer künstlerischer Arbeiten jüngeren Datums befassen (Magda Korsinsky, Anta Helena Recke und Joana Tischkau), um zu zeigen versuchen, wie diese mit jeweils spezifischen Mitteln kritische Interventionen innerhalb weißer deutscher Institutionen vollziehen.


Leon Gabriel

Dramaturgien im Nachleben der Gewalt: Asymmetrische Relationen zwischen Globalem Süden und Norden

Das Nachleben der ungleich geteilten transnationalen Gewaltgeschichte betrifft zunehmend auch die performativen Künste, die mehr und mehr von Positionen aus dem Globalen Süden geprägt sind. Ausgehend von der Annahme, dass sich diese Geschichtlichkeit in Körpern, Beziehungen und Institutionen niederschlägt, will der Beitrag den engen Zusammenhang von historisch-politischer Situation mit Ästhetiken und Produktionsbedingungen (Arbeitsformen und Infrastrukturen) aufzeigen. Anhand der Arbeiten und Arbeitsweisen der kolumbianischen Theatergruppe Mapa Teatro wird dabei die spezifische Rolle von performativer Kunst aus dem Globalen Süden im Dispositiv global-transnationalen ‚Gegenwartstheater‘ dargelegt.
Das Konzept der Dramaturgie dient als zentrales Werkzeug für die Analyse dieses weitreichenden Verhältnisses und dessen soweit möglicher Veränderung. Weil Dramaturgien (im Plural) die Reibungsfläche zwischen ästhetischem Werk und außer-ästhetischer Welt bilden, aus der erst Kunst entsteht, bündeln spezifische Dramaturgien zwischen Globalem Süden und Norden die Widersprüche und Herausforderungen an Ästhetik europäischer Prägung und stellen ihrerseits Fragen nach Dekolonisierung – der Ästhetik selbst wie darüber hinaus der Theaterwissenschaft. Damit zielt der Vortrag darauf, das Konzept der Dramaturgie von seinem eurozentrischen Gehalt (weiter) zu lösen und zu erweitern. Gezeigt werden soll, auf welche Weise sich Gewaltgeschichte auf die Darstellung niederschlägt – das heißt auf szenisches Geschehen, Arbeitsformen und sozial-umweltliche Wirkung. Erörtert wird zudem, welches Potential besteht, diese Konstellation im Bearbeiten der eigenen künstlerischen wie wissenschaftlichen Bedingungen zu verändern, mithin europäisch-abendländische Ästhetik und ihre Theoriebildung.

Dr. Leon Gabriel, wissenschaftl. Mitarbeiter/Postdoc Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Forschungsschwerpunkte: Transnationales Theater, Gewaltgeschichte, Darstellungspolitik, leon.gabriel@rub.de

Dr. Stefan Hölscher, freischaffender Theater- und Tanzwissenschaftler, Forschungsschwerpunkte: Theater und Politik, Kolonialität der Macht, Identitätspolitik im Gegenwartstheater, stefan.hoelscher1@web.de

Dr. Grit Köppen, Dozentin für Gegenwartsdramatik an der Fakultät Darstellende Kunst, Universität der Künste Berlin (UdK), Forschungsschwerpunkte:  Gegenwartsdramatik des globalen Nordens und des globalen Südens, Afropolitane Performancekunst, transkulturelle Theatergeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Postkoloniale Theorie, Dekoloniale Ästhetiken des Aufruhrs und der Subversion, g.koeppen@udk-berlin.de