In ihrer 1:1-Performance TAKDIR. Die Anerkennung bringt Ülkü Süngün den Menschen, die sie besuchen, bei, „wie sie die Namen der 10 Mordopfer des nationalsozialistischen Untergrundkomplexes korrekt aussprechen.“1 Anhand der schriftlichen Version des Namens und des geduldigen Vorsprechens sorgt die Künstlerin dafür, dass die Opfer in Deutschland in der richtigen Aussprache Anerkennung erfahren. Ein Projekt, das punktlandet, die soziale Kraft der Theatersituation entfaltet, sich dem Dringlichen eindringlich widmet.
Ein Projekt, das bei mir grundlegende theaterwissenschaftliche Fragen ausgelöst hat, ausgehend von der Beobachtung, dass hier die Botschaft mitschwingt: ‚Bei Dringlichkeit muss die Sprachwirkung gelingen‘. Vor allem auch, wenn es um biographische Schicksale geht. Aus Nichtwissen wird hier Wissen, an Unbekanntes wird sich angenähert, ein Ziel ist klar vorgegeben. Anerkennung ist gebunden an die nach John L. Austin „geglückte“ Sprachhandlung – oder zumindest an den ernsthaften Versuch, sie zum Glücken zu bringen. Aber hatte Austin das nicht für Theater, Poesie und den Kunstkontext ausgeschlossen, da diese Bereiche der Kommunikation „parasitär“ seien?
Die Grundfragen ans Theater richten sich also an die liebgewonnenen theaterwissenschaftlichen Positionen wie Erotik oder Rätselhaftigkeit der Kunst (Susan Sontag, Theodor W. Adorno), das selbstzweckhafte Verweilen und Wahrnehmen (Martin Seel), desemantisierte Theatermittel (Erika Fischer-Lichte) oder Erfahren statt verstehen (Hans-Thies Lehmann). Muss, soll, kann das Theaters in wieder eine neuen Phase kathartischer Wirksamkeit eintreten – wenn die gesellschaftliche und politische Dringlichkeit steigt, muss gerade das Theater aufgrund seiner Sozialität den Schwerpunkt verschieben? Kann die vielerorts proklamierte ästhetische Erfahrung etwas leisten, wenn es dringlich ist? Oder ist Theater immer zu spät, zu langsam, zu uneindeutig, weil mindestens doppelte Zeichen auf Bühnen erscheinen – also genuin undringlich?
Der Beitrag geht einer möglichen Dringlichkeit ästhetischer Erfahrung über den Prozess und das Phänomen des Nichtverstehens nach, ohne jedoch Theaterformate gegeneinander ausspielen zu wollen. Ob wünschenswertes Nichtverstehen in einer Dringlichkeit etwas leisten kann oder immer nur ein Privileg derer ist, denen es gerade gut geht, bleibt als ernst gemeinte Frage offen.
Dringlichkeit ist eine Machtfrage: Wer sich auf sie beruft, nötigt sich und andere zum Handeln. Angesichts der Evidenz des Hier und Jetzt von Krisen und Katastrophen wird eine Gemeinschaft von Betroffenen hegestellt, die sich keine Trägheit, keinen Widerstand, kein Zaudern und kein Zögern erlaubt: Wir sind diejenigen, die „keine Zeit haben“, die „etwas tun müssen“. Reflexion kommt dabei, wenn überhaupt, nur in ihrer instrumentellen Funktion vor, sei es im Sinne der Optimierung des Handlungsspielraums, sei es im Sinne seiner diskursiven Legitimation. Was aber, wenn die Dringlichkeit selbst das Problem ist? Was, wenn wir bislang schon zu viel gemacht und zu wenig gedacht, wenn wir uns zu wenig Zeit gegeben haben? Und was, wenn die Lösung nicht darin besteht, eine Gemeinschaft zu begründen, sondern jene Distanz einzunehmen, die es uns ermöglicht, den Einzelnen und das Andere (an-) zu erkennen – und uns in ihm? Und falls das alles zutrifft: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Theaterwissenschaft, ihre Methoden und ihren Gegenstand?
In meinem Beitrag möchte ich das Konzept der Performativität im Kontext aktueller sozialer und politischer Tendenzen diskutieren. Ausgangspunkt ist die These, dass es kein Opponent, sondern Agent einer Ideologie der Machbarkeit ist, von der ökologische, ökonomische und politische Krisen ausgehen. Dem gegenüber erscheint die theatrale Repräsentation, insofern sie auf politische Wirksamkeit zugunsten der ästhetischen Distanz verzichtet, als zeit- und raumgebende Alternative. Damit plädiere ich nicht für eine einfache Umwertung des Dualismus zwischen Theater und Performance. Vielmehr sehe ich eine doppelte, eminent unzeitgemäße und insofern zukunftsweisende Aufgabe: Erstens gilt es, die Autonomie der Theaterwissenschaft – in Abgrenzung zu anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Sphären, aber auch zur künstlerischen Praxis – zu stärken bzw. wiederzugewinnen. Zweitens gilt es, die jeweils im Inneren der Konzepte und Praktiken wirksamen Spannungen und Widersprüche herauszuarbeiten: die Theatralität der Performance und die Performativität des Theaters. Das Potential einer solchen Herangehensweise möchte ich anhand eines ebenfalls unzeitgemäßen Gegenstands erproben: Heiner Müllers Inszenierung »Hamlet/Maschine« von 1990 – hier in Form ihrer Re-Präsentation in einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste von 2022.
Nicht nur das englische matters aus dem Kongresstitel kann zweifach gedeutet werden; auch der Begriff der urgency lässt sich im Deutschen differenzieren. Einerseits suggeriert die Bedeutung der „Dringlichkeit“ eine Notwendigkeit, kurzfristig zu handeln. Andererseits legt die Übersetzung mit dem Begriff „Eindringlichkeit“ den Fokus auf die starke Wirkung, die etwas auf jemanden hat.
Ohne dass sie dort explizit Verwendung findet, es ist genau diese begriffliche Unterscheidung in eine intensive Wirkung und die sich daraus eben nicht bedingungslos ergebende unmittelbare, überstürzt erlebte Handlungsnot, die die Sozialwissenschaftlerin Elaine Scarry in ihrer 2012 erschienenen Publikation „Thinking in an Emergency“ zum Thema macht. Ein Notfall, so schreibt sie, sei eine Behauptung, die das Denken zugunsten des Handelns ausschaltet. Wenn Staaten von einem Notfall sprächen, bestünden sie darauf, dass die Art der Situation es erfordere, alle bestehenden Verfahren und Überlegungen zu umgehen, damit angemessene und schnelle Maßnahmen ergriffen werden können. Die unausgesprochene Annahme sei, dass man entweder denken oder handeln könne, und da es absolut zwingend sei, dass eine Handlung ausgeführt wird, müsse das Denken wegfallen.
Wie stattdessen besonnen mit emergenten Phänomenen umgehen? In meinem Beitrag „Performing (in an emergency)“ möchte ich zwei Performances analysieren, die diesem nur scheinbaren Widerspruch entgegenwirken, indem sie sich – einmal explizit, einmal im übertragenen Sinn – nachdenklich mit den während der Lockdowns der COVID19-Pandemie notfallartig durchgeführten Restriktionen in Bezug auf den Körper und seine Bewegungsfreiheit auseinandersetzen. Die Arbeit Manila Zoo der philippinischen Choreographin Eisa Jocson konfrontiert die physische Zurückgeworfenheit auf den eigenen Wohnraum und die digitale Quadrierung des Körperbilds im Medium der Videokonferenz mit einem subversiven Spiel mit diesen Einschränkungen. Doris Uhlichs Performance TANK (bereits 2019 entstanden, aber seit Ausbruch der Pandemie kaum mehr losgelöst von diesem Kontext zu lesen) präsentiert uns einen eingezwängten Körper, der sich dennoch im ihm umgebenden Plexiglaszylinder nicht unterwirft, sondern sich unentwegt neu entwirft. Beide Projekte verhelfen einer Formel der Theaterwissenschaftlerin Josette Féral, nach der Theater immer aus einem begrenzenden Rahmen als auch einem diesen überschreitenden Inhalt besteht, zu neuer Anschaulichkeit.
Dr. phil. Hans-Friedrich Bormann, Akademischer Oberrat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Theorien und Praktiken der performativen Künste, Improvisation, Aufführungsanalyse, hans-friedrich.bormann@fau.de
Dr. Eva Holling, bis 30.09.22 Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen, Forschungsschwerpunkte: Relation Bühne- Publikum / Wirkungsästhetik, Negativitätstheorie, Psychoanalyse, Stadtraum, (Neue)Medien, Denken philosophischer Begriffe für eine Praxis, eva.holling@theater.uni- giessen.de (ab 01.10.: emsh.atw@gmail.com)
Dr. Philipp Schulte, Associate Professor für Performancetheorie an der Norwegischen Theaterakademie, Geschäftsführer der Hessischen Theaterakademie, freischaffender Dramaturg, schulte@hessische-theaterakademie.de