Im Rahmen eines Dissertationsprojekts an der Universität Bern setzt sich Nele Solf mit fiktionaler Ambiguität im zeitgenössischen Performancetheater auseinander. Seit 2013 die Basler Dokumentartage unter dem Titel «It`s the Real Thing» den Trend zum Spiel mit Fakt und Fiktion – insbesondere in autobiografisch verankerten Performances – in den Blick nahmen, lässt sich in der Schweizer freien Szene ein gesteigertes Interesse an dramaturgischen und spielerischen Strategien beobachten, die Fiktionalität und Faktualität in Frage stellen. Der Diskurs vor zehn Jahren sieht solche Strategien vor allem im Dienste konstruktivistischer Befragungen der Konzepte ‹Realität› und ‹Wahrheit›. Neuere Produktionen zeigen jedoch eine zunehmende Ausdifferenzierung im Spiel mit uneindeutigen Fiktionalitätsmodi. Besonders Theaterschaffende, die aus feministischen, BIPoC, queeren und/oder crippen Perspektiven Theater schaffen, nutzen autobiografische und autofiktionale Methoden, ambige Identitäten und Erzählungen, um sich differenziert im theatralen Diskurs zu verorten. Dabei zeigt sich eine Versatilität dieser Methoden, die in einem breiten Feld inhaltlicher Auseinandersetzungen produktiv eingesetzt werden.
Für den diesjährigen Kongress der GTW präsentiert Nele Solf den oben umrissenen Ausschnitt aus ihrer Forschung und fragt, wie fiktionale Ambiguität und Identitätskonstruktionen eingesetzt werden, um im zeitgenössischen Performancetheater Sinn zu produzieren.
Der Zustand der Nonchalance ist glückliche, göttliche, abgerückte, überirdische Non-Existenz. So paraphrasiert sich die emotionale Situation nach sechsstündiger Narkose, die Ingmar Bergman zu Persona (1965) inspirierte. Dahinter wartet ein schmerzlichen Trigger: das Verantwortungsgefühl einem Selbstideal gegenüber. Die Anpassung des Körpers an den mustergültigen Menschen als Code des Leidens wird durch einen Zustand der Leere kontrastiert, der sich, über die französische Philosophin Catherine Malabou und ihr Essay Die Ontologie des Akzidentiellen, als Zerstörerische Plastizität beschreiben lässt. Im Rahmen meiner Doktorarbeit untersuche ich mit diesem Interesse Anna Bergmanns Neuinszenierung des Experimentalfilmes (2018), eine Koproduktion zwischen dem schwedischen Theater Malmö und dem Deutschen Theater Berlin, mit Corinna Harfouch und Karin Lithman in den Rollen der in Apathie versunkenen Schauspielerin und der Krankenschwester, die der schweigenden Ikone verfällt.
Bergmann verlagert den Fokus von Identitäts- und Verantwortlichkeits-Konzepten auf Machträume, in die der Körper eingepflegt wird und die Wirkung zweier Körper, die an ihren Sollbruchstellen aufeinandertreffen. Wenn bei Bergman (Selbst-)Verantwortung großgeschrieben wird, betont Bergmann den quälerischen (Selbst-)Vergleich mit einem (selbst aufgestellten) Ideal – es geht um Ich- Konzeptionen, die nicht nur etwas, sondern alles sein wollen. Doch auch zum Verharren im Zustand der Non-Existenz gehört geistige Kraft, der sich nur mit geistiger Kraft begegnen lässt. Hat sich die Identität augenscheinlich „aus dem Staub gemacht“ (vgl. Malabou, Catherine „Die Ontologie des Akzidentiellen“ u.a S. 38. Merve, 2011), so bleibt äußerlich immer noch ein Bild, das mit echter Existenz nichts zu tun hat, in das sich aber alles hineinlesen lässt, sogar Göttlichkeit. Persona ist Überzeichnung: von Frauen-Rollen, Frauen-Beziehungen und der Idee von Identität (der Frau) als Plastik, die am eigenen Material Raubbau betreibt, bis sie, in Folge eines explosiven Momentes der Störung, in eine Plastik der Zerstörung mutiert. Die von mir vorgeschlagene Diskussion orientiert sich stark an Catherine Malabous Konzept von Plastizität und der Frage, was folgt der Explosion, wenn Identität endet, Körper aber fortexistiert? Wie lässt sich dabei eine Verlängerung des femininen, über den binär als „Frau“ definierten Körper hinaus, als Inszenierungskategorie befragen?
Akte der Repräsentation prägen das Bild von und den Umgang mit den Repräsentierten in einer Gesellschaft. Der tatsächliche Realitätsbezug dieser Akte ist variabel, aber in ihren Auswirkungen werden Repräsentationen mitunter zu Realitäten. Vor dem Hintergrund der stetig wachsenden Zahl an (Industrie‑)Arbeiter:innen Mitte des 19. Jahrhunderts, untersucht das Dissertationsprojekt wie an den Wiener Vorstadttheatern diese zentrale historische Gruppe Marginalisierter repräsentiert wurde und inwieweit sich diese Repräsentationen mit den Lebens- und Arbeitsrealitäten von Arbeiter:innen überschnitten haben.
Im Fokus der Untersuchung steht eine Zeitspanne von knapp dreißig Jahren (1840-1867), in denen Arbeiter:innen kaum Handlungsmacht und keine politische Repräsentation hatten. Die Darstellung von Arbeiter:innen oder Auseinandersetzungen mit der ‚sozialen Frage‘ gehörten um 1850 nicht zum gängigen inhaltlichen Repertoire deutschsprachiger Theatertexte. Die Analyse der Etablierung von Arbeiter:innen-Figuren im Unterhaltungstheater stellt demnach ein zentrales Anliegen dieser theaterhistoriographischen Grundlagenarbeit dar. Denn erste stichprobenartige Untersuchungen zeigen, dass in Possen, Lebensbildern oder Volksstücken, die zwischen 1840 und 1867 an Vorstadttheatern zur Aufführung kamen, Arbeiter:innen nicht nur als Statist:innen, sondern auch als Haupt- und Nebenfiguren in Erscheinung traten. Die Analyse der Theatertexte kann Aufschluss darüber geben, welche Narrative (re‑)produziert wurden, wo die Schnittstellen zwischen Fiktion und sozialhistorischen Realitäten liegen, und wie Theater als Institutionen sowie einzelne Autor:innen die Situation von Arbeiter:innen reflektierten. Bedacht werden muss, welchen Einfluss die Zensur auf die konkreten Möglichkeiten der Reflexion hatte. Die potentielle Wirkung, die eine Aufführung im Gegensatz zur Lektüre eines Textes auf Rezipient:innen ausüben konnte, war ein bestimmender Faktor im Reglement der Theaterzensur und hängt mit der Körperlichkeit theatraler Darstellung zusammen. Darüber lässt sich eine Parallele zur Körperlichkeit von Arbeit ziehen und zugleich ein Bogen zu Analogien zwischen Theater und Industrie spannen.
Ziel des Projekts ist es, Muster historischer Inklusions- und Exklusionspraxen, die diskursbildende und meinungsprägende Funktion von Theater sowie dessen Beitrag zur Aufrechterhaltung hegemonialer Strukturen zu erkunden.
Die drängenden Fragen: Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg und Machtmissbrauch, nicht zuletzt im Kontext von Gender, Identität und postkolonialen Perspektiven – katapultieren nicht nur die Theaterkünste aus ihren traditionellen Grenzen heraus und dringen auf interdisziplinäre Öffnungen, sondern auch auf deren wissenschaftliche Bearbeitung und Begleitung. Neuere theatrale Ästhetiken der ‚zerfließenden Grenzen’ betreffen und bedrohen nun aber nicht nur das Innere der Künste, wo sie Trennungen und Regeln von Ästhetiken und Theorien in Frage stellen, sondern verweisen zugleich darauf, dass angesichts der sich zuspitzenden Klimakrise und einer multiplen Erosion unserer Umwelt die „Neupositionierung des Menschen innerhalb des komplexen Gefüges anderer Lebewesen“ (Martina Ruhsam 2021) zum unabweisbaren Ziel geworden ist. Ein wissenschaftlich fundiertes Milieu-, Umwelt- oder allgemein Kontextbewusstsein betrifft aber nicht nur erst fertige künstlerische Arbeiten und ihre wissenschaftliche Aufarbeitung und Analyse, sondern schon die Ausbildungskonzepte der darstellenden Künste, die vor dem Hintergrund solcher Menschheitsfragen zunehmend ihre gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge reflektieren und über spezifische Freiräume und zugleich deren spezifische Begrenzung nachzudenken haben. Auf Produktions- und Analyseebene sind daher mit radikalerer Dringlichkeit geeignete Denk- und Zugangsweisen gefragt, die die sich abzeichnenden ästhetischen Veränderungen ausdrücklich mittragen und miterfassen. Die Aufführungserfahrung mit der Produktion Sudden Rise der chinesisch-amerikanischen Videokünstlerin Wu Tsang und ihres Kollektivs Moved by the Motion, selbst ein ästhetischer Suchgang, der Begriffe wie Subjekt, Körper, Identität, Figuralität, Narration und performative Handlung völlig neu befragt und überkommene Definitionen schonungslos öffnet, soll in dieser Diskussion als Beispiel dienen. Die dabei zutagetretenden aufführungsanalytischen Aspekte sollen auf ihre Relevanz für Fragen der Wissensvermittlung im darstellerischen Ausbildungszusammenhang hin untersucht werden, wobei sich beispielweise die Frage stellt, ob und inwieweit sich bestehende Lehrformen in Richtung performativer Unterrichtsmodelle erweitern lassen.
Lisa Niederwimmer, Universitätsassistentin (PraeDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien, Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts, Wiener Vorstadttheater, lisa.niederwimmer@univie.ac.at
Christine Schmutz, Dozentin am Institut del Teatre Barcelona, Forschungsschwerpunkte: phänomenologische Betrachtungsweise das Kritisiche und Textumgänge in Aufführungen, schmutzc@institutdelteatre.cat
Nele Solf, Assistent*in und Doktorand*in im Schwerpunkt Gegenwartstheater des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern (CH), freie*r Theatermacher*in im Kollektiv Neue Dringlichkeit, Forschungsschwerpunkte: Autofiktionalität, Fiktionstheorie und Gegenwartstheater, Produktionsweisen im freien Gegenwarts- / Performancetheater, nele.solf@unibe.ch
Katharina Sturm, Redaktionsassistentin/Assistentin der Programmleitung rbb24Inforadio, Rundfunk Berlin Brandenburg. Promovierende an der Universität Bayreuth im Fachbereich Theaterwissenschaften, Thema der Dissertation: Mutation und Metamorphose. Ästhetische Verhandlung und Austragung der Zerstörerischen Plastizität, katharina.sturm@rbb-online.de