Nähe – Distanz

Freitag, 30.09.
09:00–10:30 Uhr

Panel, Seminarzentrum Raum L116

Moderation: Stefan Hulfeld
Sarah Ralfs

Nah und Fern – Brechts Position im Arbeitsjournal

Immer wieder in seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Exil, besonders zu Beginn des 2. Weltkrieges, beschreibt Brecht, wie er durch unterschiedliche Medien versucht, an brauchbare Informationen zum Kriegsgeschehen zu gelangen – Schlachten, Niederlagen, Kapitulationen, Angriffe, Überfälle, Allianzen. Dabei weckt insbesondere das Radio, das Brecht täglich verfolgt, den ambivalenten Schein, nah und simultan am Geschehen dabei zu sein, zumindest was die dominanten Informationen, Repräsentationen, Ansprachen und Reportagen anbelangt. Zugleich wirken diese Informationskanäle auf ihn immer wieder ungenügend, ideologisch aufgeladen, selektiv, verschleiernd und auch das Medium selbst versperrt wiederholt die Suggestion einer partizipativen Nähe, die es erzeugt, durch Knistern, Rauschen, Unterbrechungen.
Die stets gleichzeitige Betroffenheit und Distanz, die Trennung vom Ort des Geschehens, das aber das Exil zugleich begründet, das Streben nach medialer Simultanität und zuverlässiger Berichterstattung sowie deren permanente Verfehlung bilden gemeinsam ein Leitmotiv, mit dem Brecht seine Position als Ohnmächtige im Exil zu Beginn des 2. Weltkriegs beschreibt.
Zugleich aber widmen sich seine Tagbuchskizzen seiner poetischen Produktion in dieser Zeit. Denn sein Handlungsspielraum, so stellt er fest, ist trotz und wegen der Dringlichkeit und Bedrohlichkeit der Ereignisse hier zu suchen und zu finden. Dort sieht er die entgegensetzte Paradoxie am Wirken: Das Nicht-persönlich-Betroffensein, die Möglichkeit der Distanzierung, die die dramatische Dichtung bereitet, erzeugen für ihn persönlichen Handlungsspielraum, befähigen ihn, sich zu verhalten, zu äußern. Gerade in der Abkehr von den Anforderungen der dringlichen und existenziell bedrohlichen Ereignisse und in der Hinwendung zur poetischen Produktion liegt für Brecht der Freiraum zu handeln, zu existieren. In dieser Abwendung, die zugleich eine Hinwendung darstellt, lässt er kollaborativ einen Korpus von Theaterstücken entstehen, die der rasanten Zerstörung und Vernichtung des Krieges ein Überdauern entgegensetzen, indem sie nicht nur von ihrer Gegenwart sprechen, sondern bis heute mit unserer Gegenwart kommunizieren. Dies gelingt ihnen gerade aufgrund ihres Verzichts auf den direkten Bezug zum Zeitgeschehen, sondern in der Arbeit an historischen wie experimentellen dramatischen Formen und Stoffen.
Inwiefern diese von Brecht konstatierte Paradoxie zur Zeit des 2. Weltkriegs auf der Flucht vor den Faschisten Schlüsse für die theaterwissenschaftliche Forschungspraxis zulässt und welche Gültigkeit sie im heute noch beanspruchen kann, welche Übertragbarkeit ihr inhärent ist, darum soll es in dem Beitrag zur Konferenz gehen.


 
Hannah Schünemann/Felix Stenger

Kritik durch Nähe: Perspektiven mit Brecht auf Techniken des Gegenwartstheaters

Eine Reflektion auf Theaterformen, die Bühnengeschehen und Publikum einander annähern oder die Grenze zwischen beiden gar gänzlich auflösen, scheint, möchte es sich auf Brecht berufen, ausschließlich als Kritik solcher Nähe möglich: allzu intuitiv fallen Vereinnahmung und Distanzverlust in eins. Eine neue Generation von Künstler:innen gibt uns jedoch Anlass, anders über die vermeintliche Dichotomie von Eingebundenheit und Kritikfähigkeit nachzudenken: Susanne Kennedys Playback-Stimmen halten den Körper auf Distanz, stolpern und versprechen sich. Die Beziehung zu Theresa Reiwers Avataren erscheint nur unter den Bedingungen existentieller Fremdheit intim. Und die Liebkosungen in den installativen Performances von The Agency entpuppen sich immer auch als laborartige Testanordnungen. Nähe, Illusion, Eingebundenheit sind in diesen Arbeiten nicht Schranke der Kritik, vielmehr nehmen sie die medialen Bedingungen einer Kritik auf Höhe der Zeit als ästhetische Formfrage in sich auf. Sie befähigen so zu einem Denken der Kritik in und durch die digitalen und technischen Vermittlungsloops des 21. Jahrhunderts, wobei ihr Zugriff auf Formate der Virtual Reality, der digital arts oder Ästhetiken des Avatars durch die Entwicklungen der Corona-Pandemie zusätzliche Dringlichkeit erfahren hat. Nicht zuletzt stellt sich hier die pandemische Virulenz von Nähe- und Distanzverhältnissen als innerästhetische Frage.
Diese Frage bleibt auch weiterhin verwiesen auf zentrale Begriffskonstellationen Brechts: Eine materialistische Wieder- und Umkehr des Gestenbegriffs lässt sich ebenso verfolgen wie eine Steigerung und Verabsolutierung des Verfremdungseffekts in Strategien der Affirmation von Entfremdung.
In unserem Vortrag befragen wir zeitgenössische ästhetische Positionen auf die Formen und Möglichkeiten von Kritik, die sie zulassen, befähigen oder verhindern. Die Verlängerung und Modulation des Brecht’schen Impulses einer Kritik nicht gegen, sondern durch Technik steht dabei im Zentrum unseres Interesses.


 
Michael Beron

„Siehst du nicht, dass ich brenne?“ Kunst und Politik, Dringlichkeit und Entzug im Denken Slavoj Žižeks [ENTFÄLLT]

Beim Ratschlag der Initiative „Die Vielen“ 2019 in Nürnberg sprach Jean Peters (Ex-Peng-Kollektiv) von einer Epoche der „Neuen Urgenz“. Damit brachte er, affirmativ, einen Trend in den Künsten und besonders im Theater zur Sprache, die unter dem Eindruck der multiplen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Krisen der letzten Jahre ihr Augenmerkt auf die künstlerische Bearbeitung, Reflexion und Intervention auf und in die soziale Realität lenken. „Relevanz“ ist das Gebot der Stunde. Entgegen und gerade aufgrund seiner Evidenz jedoch ist Dringlichkeit als politisch- künstlerisches Gebot zugleich höchst problematisch – und zwar nicht nur weil die Dinge in einem rasanten Fluss sich befinden. Doch auch dieses „wir“ – von dem gerade in Situationen der Bedrängnis so leicht gesprochen, das angerufen wird, um ihnen zu begegnen – ist keineswegs selbstverständlich, sondern eine kontingente, politische Setzung, die das, dem sie begegnet, performativ mit hervorbringt. Dringlichkeit ist theatral – in dem basalen Sinne, den Lyotard dem Begriff gibt: als zeigen und verbergen. Es geht um (Nicht-)Darstellung, Gewichtung, Interpretation, die nicht in einem herrschaftsfreien, sondern einem historischen, von vielfältigen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen durchzogenen Raum stattfindet.
Der slowenische Philosoph und Kulturtheoretiker Slavoj Žižek gilt es einer der radikalsten politischen Denker der Gegenwart. Einerseits positioniert er sich nicht nur theoretisch fortwährend zu den politisch-sozialen Entwicklungen der globalisierten Welt und hat sich beispielsweise direkt im Rahmen der Occupy Wall Street-Bewegung vor Ort eingebracht. Andererseits beschäftigt er sich kulturanalytisch auffällig wenig mit Kunst und Kulturprodukten, die man als politisch bezeichnen würde. Immer wiederkehrende Gegenstände sind im Gegenteil geradezu provokant unpolitisch. Analog dazu ist sein politisches Denken von einer spannungsvollen Dialektik zwischen politischer Dringlichkeit einerseits und auf der anderen Seite Rückzugs- und Entzugsmanövern gekennzeichnet.
Ziel des Beitrags ist, diese Denkbewegung in Grundzügen zu erläutern, in Bezug auf die eingangs skizzierten Probleme von Dringlichkeit zuzuspitzen und für theater- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen.

Michael Beron, Promotionsstipendiat Rosa-Luxemburg-Stiftung, Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Neoliberale Subjektivierung in US-amerikanischen Fernsehserien des 21. Jahrhunderts, Gouvernementalitätsstudien, Ideologietheorie, mwjberon@gmail.com
 
Sarah Ralfs, wissenschaftl. Mitarbeiterin (Postdoc) Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, Forschungsschwerpunkte: Das Werk Christoph Schlingensiefs, Geschichte im Werk Bertolt Brechts, Schauspieltheorien, Theatertheorie, sarah.ralfs@fu-berlin.de
 
Hannah Schünemann, wissenschaftliche Mitarbeiterin EXC 2020 „Temporal Communities“ (FU Berlin), Forschungsschwerpunkte: Radikale Formen und Gesten im Gegenwartstheater, Ästhetiken der Virtualität, Dekonstruktion und Gendertheorie, zeitgenössische Dramaturgiekonzepte, hannah.schuenemann@fu-berlin.de
 
Felix Stenger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am GRK 2638 „Normativität, Kritik, Wandel“ (FU Berlin), Forschungsschwerpunkte: Entfremdung als ästhetische Kategorie, Kritik des Postfordismus, Postoperaismus, Theorien und Praktiken des Nichtverstehens, felix.stenger@fu-berlin.de