Vielstimmigkeit/Verflechtung/Kritikalität

Donnerstag, 29.09.
15:30–17:00 Uhr

Panel, Seminarzentrum Raum L113

Moderation: Friedemann Kreuder
Simone Niehoff

Polyphone Performance. Nicht-hierarchische Arbeitsweisen und Dramaturgien der Vielstimmigkeit

Polyphonie und Vielstimmigkeit sind in der Kultur- und Theaterszene en vogue: SheShePop, FlinnWorks oder Marta Górnicka verwenden sie zur Reflexion ihrer Arbeit, der Bundesverband Freie Darstellende Künste eröffnet sein Bundesforum 2021 mit einer „Polyphonie der Pandemie“, das Humboldt Forum erklärt „Vielfalt leben, Vielstimmigkeit erzeugen“ zu seiner Mission. Im Call für diesen Kongress geht der Wunsch nach einem „vielstimmigen Gespräch“ mit der Entscheidung einher, Fragen und Themen nicht vorab festzulegen. Damit wird ein Zusammenhang zwischen Enthierarchisierung und Vielstimmigkeit hergestellt, den mein Forschungsprojekt in Bezug auf Aufführungen untersucht.
Vielstimmigkeit wird oft synonym zu Vielfalt, Diversität oder Multiperspektivität verwendet, verschiebt jedoch mit der Metapher der Stimme den Fokus auf das Politische, Öffentliche und Performative. Polyphonie ist ein genuin ästhetischer Begriff, der aus der Musiktheorie zunächst in die Erzähltheorie (Bachtin), dann in die postkoloniale Theorie (Said) gewandert ist. Ausgehend von Bachtin und Said verstehe ich Polyphonie als Verflechtung literarischer, historischer, politischer oder biografischer (Gegen-)Erzählungen. Während Bachtin die innere Kohärenz polyphoner Texte betont (1971), münden Saids kontrapunktische Lektüren in einer Utopie atonaler, radikaler Polyphonie, die traditionelle Regeln sprengt (1994).
Doch wie realisiert sich Vielstimmigkeit auf der Bühne? Wie sieht eine polyphone Ästhetik aus? Wie funktioniert eine polyphone Dramaturgie? Was unterscheidet sie von Montageverfahren, Zitatcollagen, Textflächen? Mein Projekt analysiert zeitgenössische Aufführungspraktiken im Bereich Theater und Performance, die verschiedene, häufig subjektiv-autobiografische, oft gegensätzliche Perspektiven innerhalb einer vielschichtigen Dramaturgie zusammenbringen. Es entsteht eine Pluralität miteinander verflochtener künstlerischer Stimmen, die ich als „polyphone Performance“ bezeichne. Potenziert durch die Möglichkeiten einer Polyphonie der Theatermittel (Roesner 2014) zeichnen sich solche Aufführungen durch Komplexität, Heterogenität, Relationalität und Responsivität (de Groot 2007) aus. Die einzelnen Stimmen treten im Aufführungsereignis als eigenständige hervor und werden häufig in nicht-hierarchischen Arbeitsprozessen entwickelt. Das Projekt fragt nach der Wechselbeziehung von Dramaturgien, Arbeitsprozessen und Rezeption: Welche Arbeitsweisen und Organisationsformen benötigt Vielstimmigkeit, um auf der Bühne sicht- und hörbar zu werden?

 

Christine J. C. Chou

Interweaving concepts of “Gesamtkunstwerk” (total artwork) and “Yue” (music) in a globalized context [English]

Urgency remains what work, theory, and practice are supposed to involve. From the past, alongside the impasse in theatre and sociopolitical reality, Brecht was urged to explore new directions. In 1935, in Moscow, he saw the practical reality in the performance of Mei Lanfang (1894–1961) that consisted of a repertory of specific symbols that required the practice of an “art of spectatorship” (Zuschaukunst) (spectators must learn and practice the regulations over a long period). Mei’s international performances from 1919 to 1935 appealed explicitly for communication with the Western world at a critical moment of colonialism. He and his followers’ idea of touring outside China was based on the foresight that jingju (Beijing musical theater) could spread China’s cultural heritage worldwide and that discursive reasoning about the structure and effects of jingju could convince people to accept China as a cultural state.
Through the program of “International Research Center” at the Freie Universität Berlin, “Intercultural Theatre” has been superseded by “Interweaving Performance Cultures,” which focuses more on reciprocal theatrical exchanges beyond Postcolonialism, responding to the best available achievements that urge us to create and provide new principles and ideas.
This paper shows that the heritages of the Bauhaus stage and jingju, “Gesamtkunstwerk” and “Yue” (music), have the potential to bring “interweaving performance cultures” into full play and propel them forward to “interweaving concepts” mainly due to their homogeneity and practicality on the bare stage. The ideas and ideals of “Gesamtkunstwerk” aimed to heal the divisions of society. Both the two main figures of the stage, Kandinsky and Schlemmer, regarded the modern era to be in a state of crisis, but anticipating a turning point. They were concerned with “synthetisme,” in which the Germans were passionately interested.
Through dialogue and critical discussion, drawing on the hermeneutical insight that understanding is validated in the context of practice and practical application, with deliberate examination, self-analysis, introspection, and revision, we can approach the core of both heritages. It must be constructed with a sense of critical depth in a theoretical and historical context. Thus, this research signifies a self-consciously rational basis in the human sciences (Geisteswissenschaften).

 

Verena Arndt

Shoah-Erinnerung im Musical

In Qualityland (2017), einer satirischen Dystopie, geschrieben von Marc-Uwe Kling (Autor der Känguru-Chroniken), besuchen zwei Personen eine Theatervorstellung. Der aus diesem Besuch resultierende Running-Gag des Buches ist auf diversen Ebenen bezeichnend. Denn das Stück, das gegeben wird, nennt sich: Hitler – Das Musical! Die Geschichte von Ado & Eva. Und auf jede Erwähnung „der Nazis“ im weiteren Verlauf des Romans folgt stets die Rückfrage: „Die aus dem Musical?“.
Dass es im Jahr 2021 eine Produktion im Theater an der Rott in Eggenfelden mit dem Titel: Mein Kampf! Das Musical geben würde, kann der Autor zum Zeitpunkt des Schreibens nicht gewusst haben. Für ihn scheint hier viel mehr das Genre Musical als Sinnbild des Höhepunkts der Ignoranz und Geschichtsvergessenheit zu stehen. Dass dieser Witz ohne weitere Erklärung funktioniert, zeigt, dass sich der Autor auf das das kollektive ‚Wissen‘ seiner Leser*innen verlassen kann, dass Musicals keinen ernstzunehmenden politischen Inhalt transportieren können.
Denn während der wissenschaftliche Diskurs dem Theater allgemein durchaus das Potential eines Gedächtnisortes zugesteht, in dem – im Sinne Freddie Rokems – Geschichte aufgeführt wird (dt.: 2012), erscheint das Musical nach wie vor als Sonderfall. Per Definition ist es das „unterhaltende“ Genre, das sich auf Triviales und Spektakel reduziert. In der deutschen Theaterwissenschaft wurde es als Forschungsgegenstand weitgehend vernachlässigt (mit wenigen Ausnahmen, die die Regel bestätigen). Dabei bedarf das Musical gerade auf Grund seiner großen Popularität einer genaueren Betrachtung, wenn es sich historischen Themen, allen voran der Shoah, zuwendet: Wenn das Theater, wie Rokem beschreibt, tatsächlich als Ort der Ausführung von Geschichte verstanden werden kann, und wenn die persönliche menschliche Begegnung in ihrer Art der Affizierung singulär ist – wie phänomenologische Perspektiven nahelegen (Vgl. z.B. Merleau-Ponty 1984 & Dulong 1998) – dann erhält das Theater (in seiner ganzen Vielfalt) in Anbetracht des natürlich Versterbens der letzten Shoah- Überlebenden eine ganz besondere Relevanz bezüglich der kollektiven Erinnerung. Gerade die populären Theaterformen sind dabei jene, mit der größten Reichweite und demnach mit der größten Breitenwirkung. Im Rahmen meines Vortrags soll ein Einblick in mein Dissertationsthema erfolgen, das sich um Repräsentationen der Shoah im Musical konstituiert.

Verena Arndt, Doktorandin der Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater, Medien- und Kulturwissenschaft an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Spannungsfelder von Unterhaltungstheater und politischem Theater; Konstitution von Genres, Theaterwissenschaftsgeschichte/metawissenschaftliche Diskurse, Geschichte und Dispositive des sog. Unterhaltungstheaters sowie des politischen Theaters im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, v.arndt@uni-mainz.de

Christine J. C. Chou, Dr. phil., Associate Professor of Theatre Studies, Chinese Culture University, Taipei, Taiwan. Schwerpunkt: Beyond Postcolonialism, Vergleichende Theaterwissenschaft, Cross-Strait communication of theatrical education.

Simone Niehoff, wissenschaftliche Mitarbeiterin/Postdoc GRK „Ästhetische Praxis“ der Universität Hildesheim, Forschungsschwerpunkte: Politisches Theater, Interventionen, Vielstimmigkeit, niehoff.simone@gmail.com