Weltoffenheit und Antisemitismus im deutschen Gegenwartstheater

Freitag, 30.09.
11:00–12:30 Uhr

Kuratiertes Panel, Hörsaal 2

Moderation: Matthias Naumann

Mitten in der Pandemie veröffentlichten im Dezember 2020 einige der wichtigsten deutschen Kulturinstitutionen, darunter vor allem Theater und Theaterinstitutionen, das „Plädoyer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, das direkt von einem offenen Brief begleitet wurde, unterschrieben von zahlreichen Künstler*innen, der in zugespitzter Form forderte, BDS-Positionen einen Raum zu geben, und es dabei unternahm, die Spezifik von Antisemitismus zu verwischen. Die Häuser wandten sich in ihrem „Plädoyer“ gegen den Beschluss des Bundestags „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ vom Mai 2019, da „[u]nter Berufung auf diese Resolution […] durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt“ [1] würden. Sie betonten, es ginge ihnen um Dialog, während es doch gerade die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) ist, die jeglichen Austausch mit israelischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen bekämpft. Den Raum der Theater für Künstler*innen und Theoretiker*innen zu öffnen, die BDS aktiv unterstützen, kann folglich bedeuten, ihn für von Antisemitismus Betroffene sowie Positionen, die sich aktiv gegen (israelbezogenen) Antisemitismus wenden, zu schließen bzw. (israelbezogenen) Antisemitismus zu akzeptieren oder gezielt zu ignorieren.

Von diesem Vorfall ausgehend, aber auch mit Blick auf andere Vorfälle, nicht zuletzt im Rahmen der documenta fifteen, wird das Panel einige grundlegende Aspekte des Auftretens von (israelbezogenem) Antisemitismus im Theater erörtern und in vier Vorträgen vertiefen: Zwei Beiträge untersuchen, welche Folgen diese Art „Weltoffenheit“ für jüdische Künstler*innen in den vergangenen Jahren hatte sowie was für das Publikum daraus folgt, wenn die Programmgestaltung der Häuser offen für BDS-Positionen ist, diese aktiv einlädt oder antisemitische/antizionistische Aspekte ‚in Kauf nimmt‘ und andererseits keine anderen Stimmen, keine kritische Auseinandersetzung mit (israelbezogenem) Antisemitismus zulässt. Eine Rolle wird hierbei nicht zuletzt der Begriff und die historische Praxis des „Boykotts“ spielen. Ein Beitrag wirft einen Blick zurück auf Fragen der Entnennung jüdischer Erfahrungen, bzw. Antisemitismus und Antizionismus in der Geschichte des freien Theaters, ausgehend von Jerzy Grotowskis Inszenierung Akropolis. Der letzte Beitrag analysiert schließlich die Inszenierungsformen des Antisemitismus in aktuellen Debatten um antisemitische Vorfälle im Theater- und Kunstbereich. Antisemitismus ist in Deutschland anhaltend virulent, die Dringlichkeit sich damit in Theatern und Theaterwissenschaft endlich auseinanderzusetzen, liegt auf der Hand.

[1] https://www.humboldtforum.org/wp-content/uploads/2020/12/201210_PlaedoyerFuerWeltoffenheit.pdf (Zugriff am 13.03.2022).

Mia Alvizuri Sommerfeld studierte an der Universität der Künste Berlin mit Fokus auf künstlerisch-kritischen Entwurfs- und Konzeptmethodiken. Heute arbeitet sie als Creative Producerin an Berliner Kunst- und Kulturhäusern mit Schwerpunkt auf interdisziplinären Performance- und Tanzproduktionen. mia.alvizuri@gmail.com
 
Carolin Heymann, MA-Studentin Theater-, Film- und Medienwissenschaften Frankfurt am Main, Forschungsschwerpunkte: Fragen der jüdischen Emanzipation, Darstellungsweisen jüdischer Repräsentation, Darstellungsweisen intergenerationaler Shoah-Traumata. CarolinHeymann@gmx.de
 
Matthias Naumann, Autor, Übersetzer und Verleger, Schwerpunkte der künstlerischen Arbeit: aktuelle politische Konflikte und Fragen der Solidarität, historische/erinnerungspolitische Themen, Klimawandel und Mensch-Natur-Beziehungsweisen, israelisches Theater. mn@matthias-naumann.de
 
Benno Plassmann, Regisseur und Referent historische Recherchen beim Institut für Neue Soziale Plastik e.V. (Potsdam und Messingwerk). Schwerpunkte der künstlerischen Arbeit: Theater als Form von Solidarität und Stärkung demokratischer Kultur, besonders gegen Erinnerungsabwehr und Antisemitismus. plassmann@neue-soziale-plastik.org
 
Tina Turnheim, Theaterwissenschaftlerin und Theatermacherin, hat gerade ihre Dissertation „P/re/calling the Future“ am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin verteidigt. Forschungsschwerpunkte u.a. Politisches Theater, soziale Reproduktion, kultureller Antifaschismus. tina@turnheim.net