Zeitenwende Russland/Ukraine

Freitag, 30.09.
09:00–10:30 Uhr

Panel, Hörsaal 1b

Moderation: Patrick Primavesi
Diese Veranstaltung wird auch gestreamt:
https://www.cedis.fu-berlin.de/services/medien/av-medien/livestream/gtw_1b
Maria Koch

Die Neujahrsansprache von „Nicht-Wladimir Nicht-Wladimirowitsch Nicht-Putin“: Zur Zusammenarbeit des TV-Senders „Doschd’“ mit dem Schauspieler Nikita Kukuschkin

Am 31. Dezember 2019 veröffentlichte der russische Fernsehkanal Doschdʼ einen regierungskritischen Neujahrsclip, der viel Aufmerksamkeit erregte. Als einer der letzten Vertreter des unabhängigen Journalismus war Doschdʼ schon zuvor ins Visier des putinschen Zensurapparats geraten, unter anderem wegen seiner ausführlichen Berichterstattung über die Proteste nach der Duma-Wahl 2011. Entsprechend war sein Team auch eines der ersten, die nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Inkrafttreten des neuen Mediengesetzes am 4. März 2022 gezwungen waren, ihre Arbeit einzustellen.
Bei dem Videoclip handelte es sich allerdings nicht um eine Reportage oder ein anderes investigatives Format. Zu sehen war eine Auftragsarbeit des jungen Schauspielers Nikita Kukuschkin, Mitglied des inzwischen geschlossenen Moskauer Gogol-Zentrums und Schüler des von Repressionen betroffenen Regisseurs Kirill Serebrennikow. In der Rolle eines Putin-Doppelgängers, der es satt hat, sein Publikum zu belügen, hielt er darin eine eindringliche Rede für Demokratisierung, Liebe und Gerechtigkeit und erntete damit prompt mehr Klicks als das Original.
Der Beitrag reflektiert exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen schauspielerischer Verfahren in einer Gesellschaft, die sich zu großen Teilen in der Propagandablase ihres Machthabers eingerichtet hat.

 

Swetlana Lukanitschewa

Eine Vorhersage. „Krieg und Frieden“ von Rimas Tuminas am Moskauer Vachtangov-Theater [ENTFÄLLT]

Im November 2021 feierte das Moskauer Vachtangov-Theater  ̶  eine der renommiertesten russischen Bühnen  ̶  sein 100-jähriges Jubiläum mit der Premiere der Inszenierung Krieg und Frieden unter der Regie von Rimas Tuminas. Die vielschichtige Roman-Epopöe von Lev Tolstoj mit dem Umfang von über 2000 Seiten und 504 handelnden Personen zu dramatisieren und in Szene zu setzen, ist eine Mammut-Aufgabe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Tuminas schuf ein szenisches Meisterwerk von schlichter Schönheit, das in der russischen Presse als eines der bemerkenswertesten Theaterereignisse der letzten fünf Jahre gepriesen wurde und trotz der fünfstündigen Dauer immer vor dem ausverkauften Haus gespielt wird.
Der Regisseur verzichtete auf die monumentalen Schlachtenszenen, denen im Roman einige hundert Seiten gewidmet sind. Keiner der politischen Akteure, die in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts Europas Geschicke bestimmt hatten, tritt auf der Bühne auf. Im Mittelpunkt des Bühnengeschehens stehen 22 adelige Protagonisten des Romans: Mehrsprachig aufgewachsene russische Weltbürger werden vor dem Hintergrund des Napoleonischen Krieges die Beziehung zwischen dem Westen und dem Osten hinterfragen und dabei begreifen müssen, dass die Welt bald eine andere sein wird.
Rimas Tuminas hat in einem seiner Interviews betont, dass das Thema der Zeitenwende für das Theater von besonderem Interesse sei. Im Frühling 2022 gewann seine Inszenierung an Brisanz. Und erneut rückte die Inszenierung Krieg und Frieden in den Fokus der Diskussion in den russischen Medien im April, nachdem Tuminas die künstlerische Leitung des Vachtangov- Theaters, die er seit 2007 innehatte, abgegeben hat. Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit es dem Regisseur gelungen ist, die Stimmung in der Gesellschaft in der Zeit eines Epochenumbruchs einzufangen.
 


Frithwin Wagner-Lippok

Ästhetische Strategien der Ratlosigkeit – eine phänomenologische Kritik der Affekte im Theater der Zeitenwende

Den Anstoß zum vorliegenden Themenvorschlag liefert die Kongressausschreibung selbst: In der Ankündigung, die „matters of urgency” über einen offenen Call „erst ermitteln“ zu wollen, schwingt vorahnungsvoll eine Ratlosigkeit mit, die seit dem 24. Februar 2022 nicht nur legitim erscheint, sondern auch ein heuristischer Fingerzeig sein kann: Semantisch irgendwo zwischen Leere, Hilflosigkeit, Verstörung, Scham und Fassungslosigkeit changierend, kennzeichnet Ratlosigkeit einen Zustand, in dem man sich buchstäblich keinen Rat mehr weiß, enthält aber im Nachhall von Verlorenheit und Innehalten auch Spuren eines methodologischen Neubeginns. Wenn man mit Nikolaus Müller-Schöll vom Theater erwartet, dass es „sich selbst aufs Spiel“ setzt, kann man angesichts der aktuellen Verwerfung fragen: Wie schlägt sich Ratlosigkeitim Theater nieder – nicht thematisch, sondern gleichsam existentiell, als Aufführung, und wie vermögen Aufführungen umgekehrt an einem derartigen affektiven Geschehen mitzuwirken? Welche ‚Strategien der Ratlosigkeit’ stehen einem Theater zur Verfügung, das bereit ist, sich als Theater aufzuheben, das angesichts einer obszönen Wirklichkeit das Theater(spielen) gleich ganz ‚sein lässt’? In den Fokus geraten mit dieser Fragestellung Aufführungen, die sich ‚vor’ jeder thematisch-diskursiven Verortung phänomenal – um Heideggers Präzision des Phänomenbegriffs zu verwenden: ‚an ihnen selbst’ – als Ver- und Anhaltung, als Aussetzen, Einklammern und Nach-Sinnen über Zeit, Raum, Leben und Würde zeigen und insofern eine nicht-rationalistische, spekulative ästhetische Kritik verkörpern, die kein äußeres Kriterium hat, sondern unmittelbar und gestalthaft dem eigenen affektiven Raum er- und entwächst. Der Vortrag versucht einen solchen ‚affekt-phänomenologischen’ approach an Aufführungen von Jürgen Kruse (Das Missverständnis), der Queer-KünstlerIn Wu Tsang (Sudden Rise) und des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrão (Inoah) beispielhaft vorzustellen. Sie weisen Züge einer Fassungs- und Ratlosigkeit auf, die den aktuellen Ereignissen ästhetisch angemessen sein könnte.

Maria Koch, Doktorandin, Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, Forschungsschwerpunkte: russische Avantgarde im Verhältnis zu europäischen und asiatischen Spieltraditionen, Meyerhold-Theater, Prinzipien des Erzählens und Erkennens in Bezug auf Fest/Ritual/Spiel, maria.koch@uni-leipzig.de
 
Swetlana Lukanitschewa, Dr. habil., ist Privatdozentin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft an der Theaterakademie (GITIS) Moskau, 2001 Promotion am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München, 2012 Habilitation am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte des europäischen Theaters des 18./19./20. Jahrhunderts, russisches Theater, Theorie und Praxis des europäischen Gegenwartstheaters, Interkulturalität, Theateravantgarde.
 
Frithwin Wagner-Lippok, freiberuflicher Regisseur und Lehrbeauftragter/Dozent an der Universität Hildesheim, dort 2021 Dissertation über Jürgen Kruse und Bruno Beltrão. Forschungsschwerpunkte: Affektive Räume, Aufführungsanalyse, Phänomenologie, himmelschwarz@hotmail.com